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Immer nach Hause

·3246 words·16 mins

„Kehre zurück mit uns, kehre zurück zu uns,
immer nach Hause.“

Le Guin
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Es ist Tradition von guter Science Fiction und Fantasy, unüberwindbare Brocken zu hinterlassen. Gewaltig im Ausmaß, manchmal weil sie dick sind, oft aber auch dicht. Alle berühmten Autorinnen und Autoren haben ihr Hauptwerk, eine Serie oder ein Buch, das im Zentrum ihres Schaffens steht, oder ein solches Ausmaß hat, dass es de facto ihr ganzes Schaffen ist. Ursula K. Le Guin hat mit ihrer Erdsee-Serie und dem Hainish-Zyklus gleich zwei zentrale Werke in Dicke und Dichte, in dem „Die linke Hand der Dunkelheit“ nur eines der bekannten ist. Eigentlich hat die Grand Dame der Science Fiction ihren Teil zu dieser Tradition geleistet, doch würde etwas fehlen, wenn „Immer nach Hause“ in der Liste ihrer Werke vergessen worden wäre: Zukunftshoffnung im Anblick einer zerstörten Umwelt.

Im Vorfeld muss man sich über die Natur des Buches klar sein. Es wäre anmaßend es einen Roman zu nennen; der Inhalt besteht zwar aus vielen Erzählungen, aber ebenso aus Gedichten, dramatischen Werken, Musik und vielen Texten, die sich unter einer klaren Einordnung winden. Denn: Le Guin betreibt in diesem Buch Archäologie. Aber nicht auf die gewöhnliche Weise, sondern erforscht ein Volk, das noch in der Zukunft liegt. Die Kesh, teils ein Naturvolk, teils hoch entwickelt, leben im Nordkalifornien und das werden sie möglicherweise lang, lang nach unserer Zeit getan haben werden. Le Guin gründet ihr fiktionales Volk tief in ihren philosophischen und anthropologischen Vorstellungen, verwurzelt es tief mit dem Land ihrer Kindheit. Anhand der Erzählungen und Lieder der Kesh lernen wir sie weiter kennen, werden mit Le Guins Vision einer guten Zukunft vertraut. Ein gutes Leben, trotz einer kaputten Umwelt, gestiegenen Meeresspiegeln, Fehlgeburten und Gendefekten. Unsere heutige Zivilisation ist an sich selbst zugrunde gegangen, in Krieg und Gift, um in kleinen Völkern aufzuerstehen, die verantwortungsvoll und nicht über ihre Verhältnisse leben. Ein gutes Leben, aber keine Utopie.

Eine zentrale Erzählung gibt dem Buch Struktur, aber nicht zu viel. Der Anfang wirkt als würde man in eine Zukunft eintauchen, die man nicht versteht, ein Meer aus Referenzen zu einer fremden Welt. Kulturschock, Generationenverfremdung und örtliche Desorientierung, alles trifft aufeinander, aber trotzdem geht man nicht unter. Meistens ist klar, was elementar für die Grundideen des Buches ist und wie sich die zentrale Erzählung entwickelt. Manche Orte und kulturellen Details bekommen erst beim zweiten Lesen eine Bedeutung, doch werden alle wichtigen Konzepte dem lesenden Publikum nach und nach erklärt – ob in Form einer Erzählung, eines Sachtextes oder eines Gedichts. Trotzdem vermittelt Le Guin eher einen kleinen Eindruck in das Leben der Kesh und ihre Denkweise, anstatt zu versuchen, eine einzige, kohärente Geschichte zu bauen. Das Worldbuilding passt zusammen – keine Frage! – nur versteht man „Immer nach Hause“ besser als Collage einer Archäologie der Zukunft und nicht als Roman.

Tragetaschen
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Die Form ist Funktion und Forderung zugleich. Le Guins andere Werke zeigen eindrücklich, dass sie eine spannende, zusammenhängende Geschichte erzählen kann, aber hier kommt ein Prinzip zum Tragen, dass sie ihrem einigermaßen berühmten Essay „The Carrier Bag Theory of Fiction“ begründet. Dort bringt sie unsere Wahrnehmung von Jägern und Sammlern mit unseren Vorstellungen über ihre Werkzeuge zusammen. Wir denken in diesem Zusammenhang an Äxte und Speere, an Wandmalereien von der Jagd auf Mammuts. Allerdings, so schreibt sie und bezieht sich auf Elizabeth Fischer, sei die Tragetasche eine viel wichtigere und vermutlich auch frühere Erfindung. Der Alltag dieser Völker soll vor allem aus Sammeln und nebensächlich aus der Jagd bestanden haben. Allerdings ließe sich über die Tätigkeit des Sammelns keine so packende Geschichte erzählen als über das Erlegen eines Mammuts. In den Erzählungen schlägt sich nicht das reale Leben nieder, sondern das spektakuläre, der Held mit dem Speer anstatt die Großmutter mit einer Tragetasche voller kleiner Happen. Das Problem sei, so sagt Le Guin, dass wir so zu einem Teil einer Killergeschichte geworden sind, mit dessen Ende auch wir sterben. Denn wenn wir uns an diesen Geschichten orientieren, könnten wir uns gegenseitig wie den Mammuts an die Gurgel gehen, mit Atomwaffen oder Lenkraketen. Daraus zieht Le Guin folgenden Schluss für das Genre als ganzes:

„Richtig verstanden ist Science Fiction, so wie jede ernstzunehmende erzählende Literatur – ganz gleich, wie seltsam sie daherkommt –, ein Versuch, das zu beschreiben, was tatsächlich vorgeht, was Leute tatsächlich tun und fühlen, wie Menschen sich zu allem anderen in diesem riesigen Sack Befindlichen in Beziehung setzen, zu diesem Bauch des Universums, zu diesem Schoß des Künftigen und diesem Grab des Einstigen, dieser unendlichen Geschichte.“ 1

Science Fiction inspiriert Veränderung und neue Technologien. Sie beeinflusst persönliche Entwicklung und malt ein Bild einer Zukunft, die wir erschaffen könnten. Wie wir uns gegenseitig unsere Welt erzählen, beeinflusst unweigerlich unser Bild von der Welt. Da stellt sich die Frage, wie und was wir am besten erzählen sollen. Sollen wir wirklich ein Mammut an die Höhlenwand malen? Oder wie die Übersetzer und die Übersetzerin von „Immer nach Hause“ so schön ausdrücken: „Was werden wir getan haben, damit einmal ein gutes Leben sei?“2 Geschichten prägen uns nicht nur als kollektive Menschheit, sondern auch als Individuum. Neal Stephenson drückt es so aus:

“[Science Fiction] inspires people to choose science and engineering as careers. This much is undoubtedly true, and somewhat obvious.” 3

Wenn unsere Science Fiction die nächste Generation dazu bringt, bestimmte Karrieren einzuschlagen, Ziele zu verfolgen und die Welt zu verändern, dann sollten wir besser die richtigen Zukunftsvisionen erzählen. Zumindest aber welche, die kein verzerrtes Bild zeigen, nur um Spannung zu erzeugen. Wir müssen die Mammutkämpfe der Zukunft in den Hintergrund stellen, und das zeigen, was uns wirklich weiterbringt, auch wenn diese Aspekte weniger greifbar sind. Vielleicht sind es die kleinen Dinge, die Notwendig sind. Das Sammeln von Wurzeln, Beeren, Pilzen, Blättern und Nüssen und keine gefährliche Mammut-Jagd. Unsere Zukunftsvision könnte eher aus vielen kleinen Elementen bestehen, die in Kombination Wunder wirken. Anstatt ein großes, gefährliches Projekt wie eine Marsmission in den Vordergrund zu stellen, könnte es klüger sein, die Tausend Bauteile zu betrachten, die Klimaschäden eingrenzen und Frieden festigen können.

Le Guin ist aber keine Naturwissenschaftlerin. Ihre Science Fiction stellt den Menschen ins Rampenlicht. Sie schreibt über gesunde Gemeinschaften, Freude, Hoffnung, Naturverbundenheit, Toleranz und Resistenz gegen den destruktive Gesellschaftsmuster. Sie präsentiert uns eine ganze Tasche voller Menschlichkeit.

Die Leute nach unserer Zeit
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Wenn „Immer nach Hause“ eine Tragetasche ist, dann enthält sie diese zentrale Frage: Wenn sich die Welt verändert, was bleibt? Wenn Kultur und Natur, wie wir sie heute kennen, vergeht, wie werden die Menschen ticken? Kern von Le Guins Gedankenexperiment sind die Menschen und was es wirklich heißt, Mensch zu sein. Um eine schlüssige Kultur zu erfinden, muss man verstehen, was den Menschen antreibt, und das gelingt Le Guin erstaunlich gut. Gemeinschaft und Familie spielen eine große Rolle. Es gibt kein Weihnachten, die Kesh feiern ihre eigenen Feste und Zeremonien, bei denen das Tanzen im Vordergrund steht. Es ist ein fröhliches Volk, wie es sich auch in vielen Gedichten widerspiegelt:

„Sie tanz da, sie tanzt da,
sie tanzt, wo sie geht,
lachend unter den Menschen
Es blinkt, es verschwindet,
das Licht über dem Wasser.“ 4

Dieser fröhliche Grundton wird in der zentralen Geschichte herausgefordert, als die Protagonistin die Kesh verlässt und zu einem militärisch und patriarchalisch geprägtem Volk kommt. In diesem Kontrast arbeitet Le Guin die Werte der Kesh heraus. Zum Beispiel schenken die Kesh sich gegenseitig Lieder und Gedichte. Kunst ist etwas, das man teilt. Schenken ist bei den Kesh überhaupt ein wichtiges Motiv, denn sie verstehen Reichtum als die Fähigkeit viel geben zu können – und es wirklich zu tun. In den zahllosen Gedichten, mit denen uns Le Guin hier beschenkt, kommt manchmal richtig Humor zum Vorschein:

„Da war ein Mann in Chumo,
der hatte eine Idee, einmal,
für ein paar Minuten.“ 5

Wirklich faszinierend aber ist der Umgang der Kesh mit dem Tod. Es gibt keine Religion im engeren Sinne, doch ist es üblich Tiere rituell auf das Schlachten vorzubereiten, indem dem Tier „Worte gegeben werden“. Der Tod wird wertgeschätzt und je nach Empfindungsfähigkeit gewürdigt. Stirbt eine Fliege wird nur ein „arrariv“ gemurmelt, etwa, wie wir „Gesundheit“ sagen, wenn jemand niest, bei größeren Tieren wie Schafen hingegen muss eine Frau einen rituellen Satz sagen. Eine Frau, weil es eben die Frauen sind, die Leben schenken und auch diejenigen sein sollen, die dem Tod gedenken. So ist es auch eine Frau, die sterbenden Menschen mit Gesang ins Jenseits begleiten, zusammen mit anderen Kesh, ist man bis zuletzt bei den Kranken und lernt den Sterbeprozess früh kennen, bevor man ihn selbst antreten muss. Der Schrecken des Todes ist kleiner, wenn man ihn bereits kennt. Der Kontrast der Heiterkeit mit der hohen Kindersterblichkeit rückt ihre Kultur in ein interessantes Licht. Dieses Volk könnte die vorangegangenen Generationen hassen, doch lässt sich keine Bitterkeit erkennen. Im Gegenteil: Die Kesh leben das Leben voll und ganz. So heißt es in einem der Gedichte:

„Ich bin das große Leben,
das sich neigende Gras.“ 6

Diese Einstellung steht so stark im Kontrast mit dem, wie wir manchmal mit der Aussicht auf ein zerstörtes Klima und eine kaputte Natur blicken. Eigentlich logisch: Die Kesh haben alles hinter sich, kennen den Schmerz. Die Vorstellung des Todes, ob metaphorisch oder nicht, ist mächtiger, wenn die Details unbekannt sind. Wie soll die nächste Generation mit der Aussicht auf den Verlust des bekannten Lebens umgehen? Wie gut oder schlecht es genau um unsere Natur steht, kann diskutiert werden, aber Tatsache ist, dass sich die heutige Jugend vor einer riesigen Aufgabe sieht: Das Wiederherstellen, was durch Kurzsichtigkeit verloren gegangen ist. Ich weiß nicht, was Ingeborg Bachmann zu der aktuellen Weltlage gesagt hätte, aber eines ihrer Gedichte scheint so mache Trauer und Hilflosigkeit angesichts einer zerstörten Welt perfekt in Worte zu gießen:

„Ich bin das Immerzu-ans-Sterben-Denken

Ich bin der großen Weltangst Kind.“ 7

Etwas theatralisch, zugegeben, aber das alles sind Gefühle, die ernst genommen werden müssen. Die Angst um die Zukunft, die Furcht vor dem Grauen, das schon ist, sind keine leichten Brocken. Die Kesh aber haben die Traumata einer zerstörten Welt verarbeitet. Aber wie?

In ihrer Klagenfurter Rede zur Literatur8 spricht Nava Ebrahimi über dieses emotionale Gefängnis, in das man schnell gerät, wenn man über die Zukunft nachdenkt. Sie sagt, sie wisse nicht wie sie all das ausdrücken solle, was ihr durch den Kopf geht. Ihr fehlt schlicht die Sprache dafür, weil ihr „so viele Wörter schon so abgenutzt erscheinen“. Sie wünscht sich, sie könnte die Rede, die sie hält, tanzen um endlich sprechen zu können. Ihre Schlussfolgerung ist stark:

„Das ist vermutlich der größte Erfolg aller, die nicht mehr an die Bewohnbarkeit dieses Planeten glauben und ihn aufgegeben haben: dass wir dem Sog der Alternativlosigkeit erliegen. Es ist leicht, sich ihm hinzugeben. Es ist bequem. Dem Sog zu entkommen, ist anstrengend. Und wenn wir ihm entkommen sind, was dann? Dann darf da keine Leere sein. Dann erfordert es unsere ganze Vorstellungskraft, mit anderen, besseren Geschichten die Lücke zu füllen. Geschichten von Verbundenheit und Verantwortung. Geschichten von Zugehörigkeit und Zusammenhalt, die einen viel stärkeren Sog ausüben können, solange wir nicht alles Menschliche in uns abgetötet haben. Setzen wir unsere Vorstellungskraft ein gegen die Erzählung, dass uns nur noch Waffen, Dominanz und am Ende der private Exit zu retten in der Lage sind.“ 8

Hier liegt der Kern der Kesh. Die Vorstellung, einer kaputten Zukunft, in der glückliche Menschen leben. Selbst, wenn es wirklich zum äußersten kommt, wenn die Welt durch Umweltkatastrophen vergiftet wird, könnten wir noch tanzen und gemeinsam eine bessere Welt bauen. Wenn die Menschheit es in der kaputten Welt der Kesh schafft, dann kann sie es auch heute schaffen. Wenn wir wollen, können wir die Kesh sein, jene etwas durchgeknallte Leute, die trotz allem zusammenhalten, wenn auch auf eine chaotische Art und Weise. Die Kesh sind Hoffnung, eine Hoffnung, die auch wir sein können.

Hieroglyphen
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Wenn wir wie die Kesh werden wollen, und aus unserer eigenen Hoffnungslosigkeit ausbrechen möchten, müssen wir ein Ziel, eine lebenswerte Zukunft vor Augen haben – etwas, das nicht selbstverständlich ist. Wir sind umgeben von so vielen Krisen, die alle gleichzeitig unsere Hoffnung nehmen. Wie soll es aus dieser Welt einen friedlichen und nachhaltigen Weg nach vorne geben?

Wird eine Utopie in einem Bild dargestellt, so sieht man gläserne Wolkenkratzer, die grün bepflanzt wurden. Dann ist es das alte, aber grün angemalt, Greenwashing, damit es aussieht, als hätte sich etwas geändert. Uns fehlt ein Bild, wie Änderung aussehen kann, die unter die Oberfläche geht. Wie eine Gesellschaft aussehen könnte, die wirklich nachhaltig und liebevoll mit Mensch und Umwelt umgeht. Uns fehlt an vielen Stellen die Vorstellung, oder schlicht und einfach die Sprache. In diesem Kontext spricht Neal Stephenson von Hieroglyphen und meint damit plausible, durchdachte Zukunftsbilder, die Literatur hilft über wirklich Innovatives zu sprechen.

Für Dystopien hingegen haben wir die Sprache. Wir kennen den Cyberpunk, das mächtige Konglomerat und die Hoffnungslosigkeit. Wenn wir nach vorn schauen wollen, brauchen wir aber positive Ideen, umsetzbare Dinge. Wir brauchen neue Konzepte für eine Zukunft, die der wir tatsächlich leben wollen. „We desperately need better stories“, sagt Ed Finn von Project Hieroglyph. „If we want to have better futures, we need to have better dreams.“ 9

Ein Stück weit zeichnet Le Guin Hieroglyphen. Wir verstehen nicht sofort, was sie sagen möchte, und ihre Konzepte erscheinen befremdlich, aber haben wir sie einmal verstanden, sind wir um eine nützliche Idee reicher. Schon allein deswegen ist Le Guin vermutlich eine der Großmütter vom Genre Solarpunk, wo es eben darum geht, nachhaltige Konzepte durch Geschichten greifbar zu machen. Sie selbst nennt es lieber einen „nicht-euklidischen Blick“ 10 auf ihr Kalifornien, ein Ausbrechen aus den alten Denkmustern, um ihre Heimat aus dem Blickwinkel der indigenen Bevölkerung zu sehen. Doch geht sie weiter und hinterfragt Geschlechterbilder, unsere Einstellung zu Technik, unsere Archivierungswut, Erzählkultur und der Sinn von Infrastruktur. Manchmal wirkt das alles etwas holprig. Vielleicht, weil so viel auf einmal anders ist und es schwierig ist, den eigenen kulturellen Hintergrund loszulassen. Gelegentlich, weil doch mehr Zeit und Arbeit in „Immer nach Hause“ hätte gesteckt werden müssen. Vor allem aber die Radikalität des Andersdenkens lässt stolpern – wir können die entsprechenden Hieroglyphen noch nicht lesen. Solarpunk Aktivist und Kurator der Story Seed Library Pawel Ngei drückt es so aus:

„Every Solarpunk story is therefore a very intentional prototype of a hieroglyph, often clumsy and unintuitive. It’s an attempt of creating a symbol which will not lead us to the old tracks, but propose a new, unexplored path. It’s a seed which can sprout into some solid roots in the popular imagination – or wither.“ 11

Das Buch heißt „Immer nach Hause“, aber es führt uns in ein neues, unerforschtes Zuhause. Eine Welt, in der wir uns nicht sofort wohlfühlen, aber immer mehr merken, dass mit den Konzepten mehr anzufangen ist, als es auf den ersten Blick scheint. Ursula K. Le Guin ist nicht verrückt. Nicht ganz.

Le Guin schreibt keine Dystopie, aber eben auch keine Utopie. Vielleicht scheint die Welt der Kesh besser als unsere. Einfach weil die Kesh toleranter und liebevoller sind als unsere Gesellschaft. Dass der Sinn von „Immer nach Hause“ komplexer ist, als eine Utopie, als ein Zufluchtsort, sollte nach all diesen Gedanken bereits klar sein, aber sicherheitshalber untermalt Le Guin das im Buch explizit.

„Es ist bloß ein Traum, geträumt in schlimmen Zeiten, ein ‚Leck mich‘ von einer Hausfrau mittleren Alters an all jene, die Schneemobile fahren, Atomwaffen bauen und Gefangenenlager betreiben – eine Zivilisationskritik, die nur eine Zivilisierte äußern kann, ein Bekenntnis, das sich als Absage gebärdet, ein Glas Milch für die Seele, die durch sauren Regen vergiftet ist, eine pazifistische Jeanjacquerie, ein Kannibalentanz bei den Wilden im gottlosen Garten des äußersten Westens.“ 12

Aber Le Guin beharrt darauf: Es ist eine Zivilisationskritik. Eine Kritik, über die man nachdenken sollte. „Erklären ist leichter als Nachdenken“, sagen die Kesh 13. Nachdenken, ist der richtige Ausdruck, nicht etwa Diskutieren. Andere Bücher sind zum Streiten da, dieses hier existiert, um aufgesogen zu werden, um in die Kesh einzutauchen, Teil von ihnen zu werden, damit die Kesh Teil von uns werden. Pro und Kontra zu debattieren wäre Effekthascherei, denn selbst Le Guin gibt zu, dass es ein Traum ist, nicht etwas, das umgesetzt werden soll. Außerdem gibt es da noch diesen Ausspruch einer Romanfigur von Iain M. Banks:

“I don’t belive in argument. […]
I just think people overvalue argument because they like to hear themselves talk.“ 14

Fazit
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„Immer nach Hause“ ist zweifellos ein kolossales Werk der Science Fiction. Es ist nicht Le Guins Hauptwerk, aber es reicht tief in die aktuelle Literatur zu Klima, Zukunft und Gesellschaft heran. Der Geist von Ursula K. Le Guin wird uns verfolgen und zu einem klareren Bild einer guten Zukunft führen.

Der Text selbst ist anspruchsvoll und teilweise zäh zu lesen. Das liegt natürlich in der Natur der Sache, weil die Kesh anders sind und sich dieser Kulturschock nur schwer abschwächen lässt. Schwer aber nicht unmöglich. Le Guin gibt ihr bestes, aber das Werk hätte trotzdem sanfter mit der Leserschaft umgehen können.

Aber nicht nur die Form, auch der Inhalt rostet an manchen Stellen. Ja, Le Guin ist mutig, aber gelegentlich wird der Bogen dann doch überspannt. Ihre Welt ist zu dramatisch, die Gegenspieler geradezu komisch in ihrer Boshaftigkeit, während die Welt der Kesh zu reibungslos funktioniert. Die zentrale Erzählung ist wenig kreativ und auch wenn die Welt der Kesh wichtiger ist als die Geschichten, in denen sie spielen, fällt die narrative Seite von „Immer nach Hause“ im Vergleich zu herkömmlichen Büchern schwach aus. Mit einigen packenden Geschichten hätte Le Guin hier ein Meisterwerk erschaffen können. Jetzt ist es keinesfalls schlecht, aber eher getragen von den Ideen und dem Herzen als von den Charakteren.

Gelobt werden muss die Übersetzung. Festerer, Nölle und Pesch haben große Arbeit geleistet und die Unterstützung des Deutschen Übersetzerfonds hat sich voll und ganz gelohnt. Wenn der deutsche Text schon so herausfordernd ist, will man sich gar nicht ausdenken, wie schwierig das Original ist.

„Immer nach Hause“ ist eine klare Leseempfehlung für alle, die sich für die behandelten Themen interessieren. Wer Spannung und Unterhaltung möchte, ist woanders besser aufgehoben.

8.3 10

  1. U. K. Le Guin (übersetzt von M. Fersterer, K. Nölle und H. W. Pesch), Immer nach Hause, 2023, S. 788. Anm.: der Essay “The Carrier Bag Theory of Fiction” findet sich auch als PDF in jeder Suchmaschine. ↩︎

  2. U. K. Le Guin (übersetzt von M. Fersterer, K. Nölle und H. W. Pesch), Immer nach Hause, 2023, S. 13 ↩︎

  3. N. Stephenson, “Innovation Starvation”, World Policy Institute Journal ↩︎

  4. U. K. Le Guin (übersetzt von M. Fersterer, K. Nölle und H. W. Pesch), Immer nach Hause, 2023, S. 51. ↩︎

  5. U. K. Le Guin (übersetzt von M. Fersterer, K. Nölle und H. W. Pesch), Immer nach Hause, 2023, S. 103. ↩︎

  6. U. K. Le Guin (übersetzt von M. Fersterer, K. Nölle und H. W. Pesch), Immer nach Hause, 2023, S. 452. ↩︎

  7. I. Bachmann, Hinter der Wand in Sämtliche Gedichte, 2016. ↩︎

  8. N. Ebrahimi, „Drei Tage im Mai“, Rede zur Literatur, 2025. ↩︎ ↩︎

  9. D. Siegelbaum, “Project Hieroglyph: Fighting society’s dystopian future”, BBC News, 2014. ↩︎

  10. U. K. Le Guin (übersetzt von M. Fersterer, K. Nölle und H. W. Pesch), „Ein nicht-euklidischer Blick auf Kalifornien als kalter Ort in spe“ in Immer nach Hause, 2023, S. 753. ↩︎

  11. P. Ngei, “Solarpunk: lenses and foundations“, 2023. ↩︎

  12. U. K. Le Guin (übersetzt von M. Fersterer, K. Nölle und H. W. Pesch), Immer nach Hause, 2023, S. 395. ↩︎

  13. U. K. Le Guin (übersetzt von M. Fersterer, K. Nölle und H. W. Pesch), Immer nach Hause, 2023, S. 403. ↩︎

  14. I. M. Banks, Use of Weapons, 1990, Neuauflage 2023, S. 351. ↩︎

Nathan Gerber
Author
Nathan Gerber
I study Engineering Cybernetics at the University of Stuttgart, a course in system theory and automatic control. In my free time, I enjoy reading books, especially science fiction and fantasy.