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Die Utopie bröckelt

·458 words·3 mins
Eine libertäre Offshore-Siedlung in der Ostsee: In »Auf See« nimmt uns Theresia Enzensberger mit in eine düstere Zukunft der Freiheit, die wahrscheinlicher klingt, als einem lieb ist. Trotzdem findet sie Hoffnung.

Yada wohnt in der Seestatt, ein Projekt, das einst eine Utopie sein wollte, aber jetzt breiten sich die Algen durch die Risse im Beton aus. Obwohl die Siebzehnjährige die Tochter des Gründers ist, wird sie über vieles im Dunkeln gelassen – insbesondere, was mit ihrer Mutter in Wahrheit passiert ist. Unterdessen streift Künstlerin Helena, die zweite Protagonistin, durch das Berliner Nachtleben, schläft mal hier, mal dort. Seit sie aus einer Laune heraus zehn Ereignisse prophezeit hat und diese zufällig eingetroffen sind, schlägt sie sich mit einer Sekte herum, die sich um ihre Person und dem Ideal der absoluten Freiheit gebildet hat. Jetzt wird sie ihre Anhänger nicht mehr los.

Über das Meer und seine Beziehung zur Vorstellung von (ökonomischer) Freiheit hat die Autorin viel zu sagen und die Seestatt im Deutschland einer nahen Zukunft bildet einen interessanten Schauplatz. Auch Yadas Erwachsenwerden und ihre Nachforschungen nach ihrer Mutter liefern Stoff für die Suche nach sich selbst. Doch wird jedem einzelnen Potenzial zu wenig Raum gegeben und so viel parallel angeschnitten, dass »Auf See« wie ein wilder Salat aus zu vielen Zutaten ist. Das Rätsel um Yadas Mutter alleine reicht nicht aus, um durch den Roman zu tragen, aber zusammen mit den interessanten Protagonistinnen, den anregenden Gedanken und der leichtverdaulichen Prosa bleibt man doch dran. Nur gelegentlich stolpert etwas Bildungssprache über die Seite.

Im Großteil liest sich »Auf See« wie eine sachliche Zusammenfassung eines epischen Romans, der vor Emotionen und faszinierenden Personen nur so strotzt. Alle Erzählperspektiven haben Farbe, alle Charaktere sind schlüssig und dreidimensional, aber dem Publikum wird keine Zeit gelassen, sich in Situationen hineinzuversetzen. In kurzen Kapiteln springen wir zwischen Yada und Helena hin- und her, unterbrechen die Immersion bevor sie richtig entstehen kann. Die Geschichte ist toll, aber es fühlt sich an, als würden die Schauspielerinnen fehlen, um das Drehbuch auszufüllen und die Emotionen zu vermitteln. So weckt Theresia Enzensberger die Sehnsucht nach einer längeren, gehaltvolleren Version ihres Werkes, die allen Personen und Themen genügend Zeit widmen kann. Es ist nichts Schlechtes, wenn das Verlangen nach mehr zupackt, aber es ist schade um das verschwendete Potenzial – zumal die Autorin zeigt, dass sie ausgezeichnet schreiben kann, wenn sie es denn tut.

»Auf See« ist kein Sachbuch, kein Entwicklungs-, Liebes- oder Jugendroman. Selbst die nahe Zukunft wird nicht genau genug behandelt, um das Science-Fiction-Attribut zu verdienen. Dieses Buch verteidigt seine Existenz mit dem Vermischen der Genres und ist dadurch zwar exotisch, hat aber nicht den Biss, den es hätte haben können.

6.9 10
Background and thumbnail image: Teeside Offshore Wind Farm by Paul, CC BY-NC-ND 2.0
Nathan Gerber
Author
Nathan Gerber
I study Engineering Cybernetics at the University of Stuttgart, a course in system theory and automatic control. In my free time, I enjoy reading books, especially science fiction and fantasy.